Freie Universität Berlin, Fachbereich Mathematik und Informatik
Institut für Informatik, AG Informatik in Bildung und Gesellschaft

Lehre Partizipation im Internet im WS03

Medientheorie

Beeinflussen Medien Menschen? Und wenn ja auf welche Weise? Neben psychologischem Herangehen geht es heute eher um eine strukturellere Sicht.

Fragen: Ist das Phänomen so verbreiteter Partizipation im Internet eher ein Zufall oder eine Zwangsläufigkeit, die sich aus den Eigenschaften des Netzes ergibt?

Welche Auswirkungen wird langfristig die Benutzung Wikis und Chatdiensten wie COMETS nach sich ziehen?

Das Phänomen der Partizipation im Internet

Gerade im Internet ist es populär, als Einzelperson oder (virtuelle) Gemeinschaft für das Netz und dessen Nutzer einen Beitrag zu leisten. Beispiele dafür gibt es viele:

Dateibereitstellung:
Seit der Anfangszeit des Internet, als es vor allem im Forschungsbereich genutzt wurde, war es üblich, Dateien (zumeist wissenschaftliche Arbeiten) über FTP-Server allgemein zugänglich anzubieten.
Usenet:
In Newsgroups und anderen Foren wird nicht nur themenbezogen diskutiert. Die Beiträge, die von den Teilnehmern ohne wirtschaftliche Interessen zugänglich für die Allgemeinheit verfasst werden, sind oft Stellungnahmen zu Problemen und Lösungsvorschläge. Dies betrifft persönliche, allgemeine und besonders Computerprobleme.
Homepages:
Die Nutzer des Internet schaffen sich ein Zuhause im Netz, das jeder andere einsehen kann, und stellen damit dar, dass nicht nur abstrakte Informationen geboten werden, sondern hinter dem Informationsgeflecht Menschen leben. Je nach Ehrgeiz wird Expertenwissen zu Nischenthemen präsentiert. In den Anfangsjahren des WWW waren wegen des mangelnden Know-Hows der Wirtschaft (insbesondere in Unis beheimatete) Privatpersonen der Großteil der Informationsanbieter.
Zusammenarbeit:
Da über das Internet Informationen ausgetauscht werden können, profitieren insbesondere die Bereiche, die mit Informationen umgehen, von der Vernetzungsmöglichkeit. Zusammenarbeit durch Kooperation und Austausch wird vor allem in der Open-Source-Bewegung erfolgreich praktiziert (CVS, Wikiwiki).

Andere Medien brachten derlei Phänomene nicht in diesem starken Maß hervor. Fühlen sich die Menschen durch das Internet besonders zur Partizipation berufen? Oder ist das Auftreten so starker Partizipation im Internet auf andere Faktoren zurückführbar oder einfach Zufall?

Um dieser Frage nachzugehen, wollen wir heute untersuchen, welche Bedeutung und welchen Einfluss Medien im Allgemeinen auf die Menschen haben, um dann die Frage nach den gegenwärtigen und zukünftigen Auswirkungen des Internet auf die Menschen zu beantworten.

Eigenschaften des Internets

Als emprische Grundlage der nachfolgenden Überlegungen vergegenwärtigen wir uns wichtige Eigenschaften des Internet und fassen sie auf einer Wiki-Seite zusammen.

Gesellschaftliche Entwicklungen aufgrund des Internets

Welche Eigenschaften von Medien beeinflussen die Menschen auf welche Weise?

Nach einer Überlegung, was Medien eigentlich sind, werden die Auswirkungen verschiedener Medien nach der Theorie McLuhans untersucht.

Vorstellung von McLuhan

Herbert Marshall McLuhan lebte von 1911 bis 1980. Er war Professor für Literatur an der Universität von Toronto. Weltbekannt wurde er mit Büchern wie "Die Gutenberg Galaxis" und "Die magischen Kanäle (Understanding Media)", in denen er sich mit dem Einfluss von Medien auf unser Leben auseinandersetzte. Er gilt heute als Vordenker und Klassiker der modernen Kommunikationswissenschaft.

Seine provokanten Thesen, wie er sie im Buch "Die magischen Kanäle" z.B. in der ersten und letzten Kapitelüberschrift ausdrückt ("Das Medium ist die Botschaft" und "Nicht fürs Leben lernen, sondern leben lernen"), besitzen nach der Revolution durch das Internet noch mehr Gültigkeit denn je.

Medienbegriff nach McLuhan

Modelle zu Medium und Botschaft
gängige AuffassungMcLuhan
Definition: Ein Medium ist der Träger von Informationen (oder von anderen Medien) Ein Medium ist eine Ausweitung der Sinne oder eine Ergänzung des Körpers.
Bedeutung: "Die Botschaft ist wichtig, nicht der Bote." "Das Medium ist die Botschaft."
Schlussfolgerung: Regulierung (Zensur) von Inhalten Reflektierte Wahl des Mediums

Heiße und kalte Medien

Wenn Medien also Ausweitungen des Körpers sind, dann können sie wie eine Prothese ein Körperteil überflüssig machen oder dieses wie ein Greifarm verlängern. Werden wir an sie gewöhnt, sehen wir durch sie hindurch wie eine Brille, von der wir auch vergessen, dass wir sie auf der Nase haben. Ferner kann der Umgang mit dem Medium dem Sinn entsprechen oder mehr Eigenleistung fordern.

Wenn ein Medium viel Detailreichtum für einen Sinn bereithält und wenig eigene Denkarbeit zur Vervollständigung geleistet werden muss, spricht McLuhan von "heißen" Medien. Andere Medien, die wenig Information bieten oder Dank der Interaktivität eine höhere Eigenleistung abverlangen, werden von ihm als "kalte" Medien bezeichnet.

Mediengeschichte

Die These, dass das Medium das gesellschaftliche Leben der Menschen weit stärker beeinflusst, als die darüber transportierten Inhalte, wird über die Behandlung verschiedener Medien in der Geschichte der Menscheit nahegelegt.

Nach Auswahl der Medien Dorf, Straße, Schrift, Buchdruck, Radio und Fernsehen werden diese anhand einer Tabelle daraufhin untersucht, wie sie sich auf diverse Kategorien (Ausweitung, Transport, Modulation, Arbeit und Wirtschaft, Bildung, Politisches System, Kultur und Religion) ausgewirkt haben.

Explosion und Implosion

Insbesondere einen Trend hält McLuhan für wesentlich: Die Beschleunigung, die mit der Einführung neuer Medien einhergeht.

Mit den ersten Medien konnte eine räumliche oder zeitliche Ausdehnung erreicht werden. Nicht mehr alles musste vor Ort im Dorf gemacht werden. Diese zunehmende Ausdehnung bezeichnet McLuhan kurz als "Explosion". Bei zunehmender Beschleunigung, insbesondere durch elektrische Medien, sind plötzlich alle Orte unmittelbar "in Echtzeit" erreichbar. Somit kehrte sich der Trend der Explosion um, und wir leben jetzt im Zeitalter der Implosion.

Das sture Beharren auf den alten Schemata der mechanischen, einspurigen Ausdehnung vom Zentrum zur Peripherie ist mit unserer elektrischen Welt nicht mehr vereinbar. Die Elektrizität zentralisiert nicht, sie dezentralisiert. Es ist wie der Unterschied zwischen einem Eisenbahnnetz und einem elektrischen Gitternetz: Das eine macht Kopfbahnhöfe und große Städtezentren erforderlich. Die elektrische Energie, die dem Bauernhof wie den Verwaltungsbüros in gleicher Weise zu Verfügung steht, macht es möglich, dass jeder Ort zum Zentrum wird, und verlangt keine massiven Anhäufungen.

Dieses Schema der Umkehrung zeigt sich ziemlich früh bei den elektrischen »arbeitssparenden« Apparaten, sei es nun ein Toaster, eine Waschmaschine oder ein Staubsauger. Anstatt Arbeit zu sparen, wird es jedermann möglich, seine eigene Arbeit zu tun. Was das neunzehnte Jahrhundert Dienern und Dienstmädchen aufgetragen hatte, tun wir jetzt selber.

McLuhan, "Die magischen Kanäle", S.51

Internet: das prophezeite elektrische Netz?

Während der Tabelleninhalt in enger Anlehnung an McLuhan stattfand, ist die Tabelle um eine Spalte "Internet" erweitert worden. Wir fragen, ob sich die Eigenschaften, die McLuhan einem zukünftigen "elektrischen Netz" zugeschrieben hat, mit denen des Internet decken, und führen die Gliederung der Tabelle auf der Wiki-Seite fort.

Wahrnehmung von Medien

Wo habe ich meine Brille?

Häufige Brillenträger nehmen irgendwann gar nicht mehr wahr, dass sie eine Brille tragen. Sie sind die Modulation der visuellen Information gewöhnt. Gleiches gilt für andere Medien auch: in dem Moment, wo der Mensch an ein Medium vielleicht bereits seit Kindheitstagen gewöhnt wurde, wird es gar nicht mehr als stark mitbestimmender Teil des Lebens wahrgenommen.

Während wir eher passiv vom Fernseher geprägt sind, die Familie durch die Soap ausgetauscht haben und zusehen, wie der Held der Fernsehserie dem Guten zum Erfolg hilft, so verhalten wir uns auch in der Öffentlichkeit, in der die Nicht-Einmischung schon fast politisch korrektes Verhalten darstellt.

Wenn Menschen jedoch durch ein interaktives Medium geprägt werden, das ihnen die sofortige Einflussnahme auf das (elektronische) Geschehen ermöglicht, dann besteht die Aussicht, dass dieses Verhalten weitergetragen wird.

Während das letzte Jahrhundert eher von heißen Medien geprägt war, wird die Elektrizität wieder kalte Medien hervorbringen, die durch ihre Interaktivität eine höhere Eigenleistung fordern.

Aufbauend auf die Thesen McLuhans argumentiert Don Tapscott in "Net Kids", dass sich Menschen an die Weise gewöhnen, wie sie mit Medien umgehen, und dies auf ihr übriges Verhalten übertragen. Menschen, die vor allem durch das Internet geprägt sind, werden sich an die Interaktivität und Unmittelbarkeit dieses Pull-Mediums gewöhnen. Sie erfahren sich sich im digitalen Raum als wirkend und werden sich auch im normalen Leben stärker engagieren.

Analoge und Digitale Welt

Zum besseren Verständnis zählen wir erst auf, welche Güter wir als materiell und daher unteilbar verstehen und welche Güter immatriell sind und daher auch mit anderen geteilt werden können. Ersteres entspricht der traditionellen analogen Welt, zweiteres der neuen digitalen Welt.

Analoge WeltDigitale Welt
Güter
einzig, Besitzverhältnis, materiellunendlich, "shareable", immateriell
ein Menschenleben(virtuelle Identität, Nickname)
WerkzeugSoftware
Nahrung"geistiges Futter" Information
WohnungSpeicherplatz, Homepage
Geld, AufmerksamkeitAnsehen, Ehre, Ruhm
monogame BeziehungLiebe
Anarchie:
Gesetzlosigkeit, Herrschaftslosigkeit
Anarchismus:
politische Lehre, die jede Staatsgewalt ablehnt
Archon, Archont:
Höchster Beamter in altgriechischen Städten

Mehr unter www.anarchie.de, weiterer konkreter Definitionsversuch

Im Internet sind alle digitalen Ressourcen unendlich, solange sie nicht einen Platzhalter eines realen Etwas sind. Daher bedarf es im "anarchischen" Netz so gut wie keiner Regelung: wer sich bedroht fühlt, wechselt zu einer anderen Ressource oder schafft sich selbst eine neue. Die Tatsache, sich per "Disconnect" jederzeit entziehen zu können, und die Unendlichkeit der Ressourcen führt zu einer Aufhebung von Machtstrukturen, die ja gerade von potentieller Gewalt über Ressourcen geprägt ist. Um am Netzleben teilnehmen zu können, wird von den Netzbewohnern eine neue, intensivere Art von Aufmerksamkeit, Verbindlichkeit und Freundlichkeit gefordert. Zuwendung für andere, ob in Form von Liebe oder Software, ist somit ein eher zwangsläufiges Phänomen.

q.e.d. ;^)

Ausblick: Nicht für's Leben lernen, sondern leben lernen

Als Überleitung von der Medientheorie zu ihrem Einsatz in der Schule gebe ich hier ein Zitat von McLuhan. Es ist der Beginn des letzten Abschnitts "Automation - Nicht fürs Leben lernen, sondern leben lernen" aus dem Buch "Die magischen Kanäle".

In einer Überschrift einer Zeitung hieß es kürzlich:

"Das kleine rote Schulhaus muss gehen, wenn die neue Straße kommt."

Einklassige Schulen, in welchen alle Jahrgänge gleichzeitig in allen Disziplinen unterrichtet werden, verschwinden einfach, wenn ein verbessertes Transportwesen Spezialräume und Fachunterricht möglich macht. Bei äußerster Beschleunigung der Bewegung jedoch verschwindet die Spezialisierung der Räume und der Gegenstände wieder. Mit der Automation werden nicht nur Berufe verschwinden und ganzheitliche Rollen wieder aufkommen. Eine jahrhundertelange Spezialisierung in der Pädagogik und der Anordnung von Daten geht nun durch die augenblickliche Verfügbarkeit von Informationen zu Ende, welche die Elektrizität möglich gemacht hat. Automation ist Information, und sie macht nun nicht nur den Spezialaufgaben im Bereich der Arbeit ein Ende, sondern auch der Auffächerung im Bereich des Lernens und Wissens. In Zukunft besteht Arbeit nicht mehr darin, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sondern darin, im Zeitalter der Automation leben zu lernen. Das ist ein ganz allgemeines Verhaltensmuster im Zeitalter der Elektrizität. Es beendete die alte Dichotomie von Kultur und Technik, von Kunst und Handel und von Arbeit und Freizeit. Während im mechanischen Zeitalter der Fragmentierung Freizeit die Abwesenheit von Arbeit bedeutete oder bloßes Müßigsein, gilt im Zeitalter der Elektrizität gerade das Gegenteil. Wenn das Zeitalter der Information von uns den Einsatz aller Fähigkeiten gleichzeitig verlangt, entdecken wir, dass wir am stärksten das Gefühl empfinden, frei zu sein, wenn wir am intensivsten "dabei", also mit einbezogen sind, ähnlich wie es Künstler zu allen Zeiten waren.

(Herbert Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle - Understanding Media)

Mit der Verfügbarkeit aller Information sind uns heute eine vielzahl von Lebensmodellen geboten. Der Lebensweg ist nicht mehr vorgezeichnet, sondern obliegt in unseren "offenen" Gesellschaften dem Geschick des einzelnen. Selbst die Werte, die er seinen Lebenszielen zugrundelegt, ob es das Streben nach Geld, Macht, Anerkennung oder Spaß ist, ist offen und muss von jedem einzelnen erarbeitet werden. (Ernst)

Literatur

AutorTitelVeröffentlichungQuelle
Heiko ErnstPsycho Trends: Das Ich im 21. Jahrhundert1997Piper, München
Karl FogelOpen Source Projekte mit CVS2000MITP, Bonn
Marshall McLuhanDie magischen Kanäle - Understanding Media1964, 1992Econ, Düsseldorf
Nicolas NegroponteTotal Digital - Die Welt zwischen der 0 und 1 oder Die Zukunft der Kommunikation1995, 1997Goldmann, Bertelsmann, München
Open Source kurz & gut1999O'Really, Köln
Don TapscottNet Kids: Die digitale Generation erobert Wirtschaft und Gesellschaft1998Gabler, Wiesbaden

Lehre

Projekte

Personen

Quellen